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27. Dezember 2017

Auftritte vor der Längengrad-Kommission

Dave Snowden, der Schöpfer des Cynefin-Frameworks verwendet das Buch “Längengrad” (im Original “Longitude”) um mit Führungskräften in die Diskussion über Umdenken und Veränderung zu gehen, so berichtet Stephen Denning in seinem Buch “Storytelling”. Wer das Buch gelesen hat, kommt nicht umhin, im Alltag in manchen Situationen an diese interessante Geschichte zu denken.

Das Längengrad-Problem

Die größte navigatorische Herausforderung in der Seefahrt des 16. und 17. Jahrhunderts lag in der Bestimmung des Längengrades. Der aktuelle Breitengrad konnte relativ einfach bestimmt werden und so blieb den Navigatoren nichts anderes übrig, als zuerst auf den gewünschten Breitengrad zu segeln und dann diesem so lange entlangzufahren, bis das Ziel in Sicht war. Immer wieder unterliefen den Navigatoren Fehler, die vielen Seeleuten das Leben kostete, weil die Schiffe auf Grund liefen, in der Annahme sie wären noch hunderte Meilen vom Ziel entfernt.

So beschloss die englische Regierung 1714 ein enorm hohes Preisgeld für die Lösung des Längengrad-Problems auszuloben (20.000 Pfund, das würde heute vielen Millionen Euro entsprechen). Die verschiedenen Ansätze zielten immer auf denselben Aspekt ab: Die Bestimmung der Zeit an einem Ort mit bekanntem Längengrad (z.B. London). Die Bordzeit war über den Zenith der Sonne leicht zu ermitteln und die Zeitdifferenz zu einem Ort mit bekannter Länge ließe die Navigatoren einfach den aktuellen Längengrad ausmessen.

Die bevorzugten Lösungsansätze waren astronomische Konzepte. Über die Position der Jupiter-Monde, über Mondfinsternisse oder über die Distanz der Mondscheibe zu bekannten Sternbildern sollten es den Seefahrern möglich sein, die aktuelle Ortszeit in London zu bestimmen. Dementsprechend war die sogenannte Längengrad-Kommission auch aus angesehenen Mathematikern und Astronomen zusammengesetzt. Astronomen, die sich für das Preisgeld beworben hatten, begannen in Sternwarten über Jahrzehnte hinweg Himmelskonstellationen zu beobachten und zu berechnen und legten Ihre Daten in umfangreichen Tabellen nieder. Die ersten Versuche auf See haben gezeigt, dass selbst Mathematiker und Astromomen mehrere Stunden benötigten um anhand der Beobachtungen die Londoner Zeit zu berechnen. Darüber hinaus funktionierten die Beobachtungen nur bei klarem Himmel.

Der Uhrmacher

John Harrision war ein Schreiner und autodidaktischer Uhrmacher. Er hatte eine Gabe genaue und robuste Uhrwerke zu konstruieren und zu bauen. Seine ersten Turm- und Standuhren waren komplett aus Holz gefertigt. Durch seine Erfahrung mit dem Werkstoff Holz baute er aus verschiedenen Holzsorten und durch bewussten Einsatz der Faserrichtung des Holzes Uhrwerke, die wartungsfrei sind und teilweise heute noch in Betrieb sind. Für Harrision war klar, dass das Längengrad-Problem für die Anwender, also die Navigatoren auf See, mit einer genau gehenden Uhr am einfachsten zu lösen war. Wenn der Navigator die Londoner Zeit einfach ablesen könnte, wären weder mathematische noch astronomische Kenntnisse, noch umfanreiche Berechnungen, noch ein klarer Himmel notwendig. Obwohl Harrision schon Standuhren mit Temperaturkompensation gebaut hatte, die lediglich wenige Sekunden Abweichung pro Monat hatten, waren Pendeluhren auf See nicht einsetzbar. Eine Uhr zur Lösung des Längengrad-Problems musste mit schaukelnden Schiffen, Schwankungen in Lufttemperatur und -feuchtigkeit und mit verschiedenen Koeffizienten der Erdanziehungskraft klarkommen.

Bereits die erste Schiffsuhr von Harrison, die H-1 hatte vermutlich die Genauigkeitsanforderungen der Längengrad-Kommission erfüllt, der Perfektionist Harrison konstruierte jedoch nacheinander vier komplett unterschiedliche Uhren (H-1 bis H-4), die letzte davon bereits sehr klein, wie eine große Taschenuhr. Die Genauigkeit der Uhr und die gute Handhabung gegenüber den astronomischen Ansätzen wurde auf mehreren Reisen nachgewiesen.

Die Längengrad-Kommission

Die Längengrad-Kommision war überzeugt, dass die Lösung nur astronomischer Natur sein kann und dass ein mechanisches Konstrukt den komplizierten Berechnungen und Beobachtungen nie überlegen sein kann. Die Kommission hatte zwar Harrision immer wieder mit kleinen Finanzspritzen unterstützt, als es dann aber um den Beweis der Tauglichkeit von Harrisons Uhren ging und die ersten Testfahrten sensationelle Ergebnisse gezeigt hatten, begann die Kommission die Regelungen der Preisvergabe anzupassen und zu verschärfen. Harrision (zusammen mit seinem Sohn) kämpfte 40 Jahre lang um die Anerkennung der Leistung seiner Uhren und damit um das Preisgeld. Erst eine Intervention des Königs veranlasste die Kommission das Preisgeld auszubezahlen als Harrison schon im Rentenalter war. Es war für die Astronomen schlicht nicht vorstellbar, dass ein mechanisches Gerät die Aufgabe schneller und einfacher löst, als die Jahrzente andauernden Messungen und Berechnungen der Astronomen. Wenige Jahrzehnte nach der Auflösung der Längengrad-Kommission, war der Einsatz einer genauen Uhr jedoch Stand der Technik bei der Navigation auf See.

Der Längengrad im Alltag

Wenn man sich mit anderen Menschen über das mit der agilen Entwicklung einhergehende Umdenken unterhält, gibt es in der Regel ein breites Spektrum von Reaktionen. Naja, Spektrum ist vielleicht etwas übertrieben, sagen wir: Das Thema polarisiert, Gleichgültigkeit taucht eher selten auf. Ein Teil der Gesprächspartner ist interessiert und will sich auf das Neudenken einlassen, der andere Teil tendiert dazu die Themen als unsinnig, nutzlos oder unrealistisch abzulehnen. Manche Diskussionen fühlen sich so ein wenig an, wie ein Auftritt vor der Längengrad-Kommission: Neue, einfachere Konzepte (Selbstorganisation, Pull-Systeme, Schätzmethoden…) werden teilweise als unsinnig oder unnütz abgelehnt.

Über die Jahre hinweg habe ich immer mehr den Drang verloren mein Gegenüber um jeden Preis zu überzeugen. Das neue Denken ist für mich lediglich ein Angebot. Wenn es jemand nicht annehmen will, ist das genauso in Ordnung, wie wenn jemand auf die agile Entdeckungsreise geht. Und ich habe einen Vorteil gegenüber John Harisson: Es geht nicht um ein Vermögen, nicht um ein Preisgeld, lediglich um einen Meinungsaustausch. Das heißt nicht dass mir die Themen gleichgültig sind. Ich bin fest überzeugt, dass agile Ansätze eine bessere Arbeitswelt und höheren wirtschaftlichen Erfolg mit sich bringen. Seit ich das Längengrad-Buch gelesen habe, fällt es mir aber leichter damit umzugehen, wenn sich jemand nicht darauf einlassen will. Ich solchen Fällen entspanne ich mich und fühle mich wie ein entfernter Nachkomme von John Harisson. :)

Buchtipp

Ich kann das Buch “Längengrad” von Dava Sobel jedem Empfehlen, der sich mit Transformationen in Unternehmen beschäftigt. Es wie Dave Snowden als Vorab-Lektüre den Führungskräften beim Kunden auszuhändigen ist der nächste Schritt ;)

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