Der Druck auf Entwicklungsabteilungen wird immer grösser, trotz ausgefeilter Entwicklungsprozesse und hoher Reifegradstufen sind bestimmte Problemfelder jedoch nicht so richtig in den Griff zu bekommen. Sind unsere Prozesse wirklich den aktuellen Herausforderungen gewachsen? Wenn wir unsere heutigen Entwicklungsprozesse in Frage stellen, können wir einen Schritt weiter gehen und das Denken hinterfragen das zu den heutigen Prozessen und deren Verständnis geführt hat. Dazu möchte ich mit Ihnen in die Vergangenheit abtauchen.
Vor dem Industriezeitalter waren Prozesse unbekannt. Produkte und Dienstleistungen wurden durch Meister des jeweiligen Fachs geschaffen. Meister vereinen theoretisches Wissen und praktisches Können, sind also nach dem heutigem Verständnis Entwickler und Produzent zugleich. Zumeist war das praktische Können mit einem gewissen Talent gepaart, das in einer bestimmten Region verfügbare Ausstoßvolumen eines Produkts war also durch das verfügbare Können in Form von talentierten Personen beschränkt.
Mit Beginn der Industrialisierung betrat ein gewisser Frederick Winslow Taylor die Bühne und revolutionierte die Arbeitswelt. Taylor zerlegte Fertigungsprozesse in einzelne atomare Arbeitsschritte die er mit wissenschaftlichen Methoden einzeln optimierte. Ziel war es, jeden Arbeitsschritt so weit zu vereinfachen, dass er von einer angelernten Arbeitskraft erledigt werden konnte. Durch diese Zerlegung trat das Können in den Hintergrund, es wurde durch explizites Wissen in Form von Prozessbeschreibungen ersetzt. Damit konnten Produkte nun in Fabriken in enormen Stückzahlen produziert werden. Es ist wichtig, dabei die damaligen Marktverhältnisse im Hinterkopf zu behalten. Es war ein Verkäufermarkt, die entstehenden weltweiten Märkte waren de facto unendlich große Märkte für einheitliche Produkte. Die zweite Aufgabe des Meisters, die Entwicklung stand nicht im Vordergrund, einmal entwickelte Produkte wurden für heutige Verhältnisse „unendlich“ lange gebaut.
Vergleichen wir die Wirtschaft im 21. Jahrhundert mit jener zu Taylors Zeiten fällt auf, dass sich alle oben angesprochenen Aspekte ins Gegenteil verkehrt haben. Die Kunden bestimmen den Markt, die Hersteller sind gefordert in immer kürzeren Zyklen neue Produkte zu entwickeln und zu produzieren. Damit hat eine innovative flexible und schnelle Entwicklung die möglichst preiswerte Produktion als Haupt-Wettbewerbsvorteil abgelöst. Das kam natürlich nicht über Nacht sondern hat sich in den letzten Jahrzehnten in diese Richtung entwickelt. In dem Zuge in dem die Entwicklung immer wichtiger wurde, haben sich auch Entwicklungsprozesse nach entwickelt, allerdings ebenso nach Taylors Gedanken.
Und damit sind wir bei der sehr interessanten Frage: Sind Produktionsprozesse und Entwicklungsprozesse von gleicher Natur?
Meine Antwort ist ganz klar: Nein. Produktionsprozesse sind linear, deterministisch und versuchen Variabilität zu reduzieren. Entwicklungsprozesse sind kreative, chaotische nicht planbare Prozesse und erfordern ein hohes Maß an Variabilität um Innovation zu ermöglichen.
Wir versuchen also nicht planbares zu planen, versuchen Kreativität in lineare Abläufe zu pressen. Wir versuchen mich hierarchischen Strukturen (und damit zentraler Kontrolle) in dynamischen Märkten zu bestehen.
Die daraus resultierenden Effekte dürften Ihnen aus der täglichen Arbeit bekannt sein, die will ich an dieser Stelle nicht diskutieren. Stattdessen möchte ich den Blick auf potentielle Lösungsansätze lenken.
In der Produktion hat Toyota ab den 50er Jahren bewiesen, dass eine leichte Abkehr vom Taylorismus und von zentraler Kontrolle bereits große Erfolge hinsichtlich Kosten und Qualität verursachen kann. 50 Jahre später haben sich agile Modelle wie Scrum in der Softwareentwicklung gebildet und es wurden Produktionskonzepte wie Kanban-Steuerung oder die Engpasstheorie in Entwicklungsprozesse überführt. Auf den ersten Blick verschiedene Konzepte zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Bereichen. Doch alle haben Sie folgende Wirkmechanismen gemeinsam:
- Stärkung des Könnens: Das Können des Menschen wird wieder wichtig.
- Kundenorientierung: Einbindung des Kunden
- Pull-Steuerung: Limitierung des Work in Process.
- Transparenz: Visualisierung von Fluss, Problemen und Abhängigkeiten
Zurück zur Handwerkskunst? Die Ansätze gehen zumindest in diese Richtung. Und sie funktionieren. Derzeit allerdings meistens nur unter der Voraussetzung, dass die entsprechenden Bereiche vor der restlichen Organisation und dem Management geschützt werden. Die Herausforderung ist also nicht die Handwerkskunst der Entwicklung wieder zu entdecken, sondern diese in einem Industrieunternehmen zu verankern.
Und damit sind wir schnell bei der Frage, ob ein Unternehmen mit klassisch hierarchischem Aufbau und zentraler Kontrolle strukturell überhaupt in der Lage ist in der Marktdynamik der Zukunft zu bestehen…